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Sondervotum zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin

12.04.2014
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VerfGH 129/13

Abweichende Auffassung des Richters Starostik

Nach meiner Auffassung ist § 1 Abs. 3 des Berliner Gesetzes über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen vom 23. April 2013 (VersammlG Bln) mit der Verfassung von Berlin nicht vereinbar, denn die Ermächtigung der Polizei zur Anfertigung von Übersichtsaufnahmen bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen verletzt das Grundrecht aus Art. 26 der Verfassung von Berlin (VvB).

1. Das Gesetz greift in die Grundrechte aus Art. 26 und 33 VvB ein. Prüfungsmaßstab ist Art. 26 VvB, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 33 VvB kommt lediglich als komplementärer Prüfungsmaßstab in Betracht.

a) Art. 26 VvB gewährt - weitgehend übereinstimmend mit Art. 8 GG - die Versammlungsfreiheit, anders aber als Art. 8 GG, als Menschenrecht.

Zu der verfassungsrechtlichen Gewährleistung dieses Grundrechtes gehört insbesondere seine „Staatsfreiheit“. Das Grundrecht schützt seine Träger vor staatlichen Eingriffen in deren Entschluss, ob und an welcher Versammlung sie sich auf welche Art und Weise beteiligen wollen. Es ist ein ganz wesentlicher Bestandteil unmittelbarer demokratischer Meinungs- und Willensbildung. Versammlungsteilnehmer, die so an der demokratischen Auseinandersetzung teilnehmen, machen den Staat im wörtlichen Sinne zur „res publica“, zur öffentlichen Angelegenheit. Dem trägt sowohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung (vgl. Beschluss vom 17. Februar 2009 - 1 BvR 2492/08 -, BVerfGE 122, 342 <369> = juris Rn. 131 f.) als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Rechtsprechung zur Gewährleistung der Versammlungsfreiheit durch Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Rechnung (vgl. Urteil vom 15. März 2012 - 39692/09, 40713/09, 41008/09 -  Austin u.a./Vereinigtes Königreich, NVwZ-RR 2013, 785 Ls. 6).

Der EGMR betont in seiner ständigen Rechtsprechung insbesondere, dass wegen der hohen Bedeutung der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, auf Seiten der staatlichen Behörden große Zurückhaltung und Toleranz erforderlich ist, weil sonst das Grundrecht inhaltslos werden könnte (vgl. Urteil vom 5. März 2009 - 31684/05 - Barraco/Frankreich, NVwZ 2010, 1139 <1140 Rn. 43> m. w. N).

a) Soweit die Polizei infolge der Ermächtigung zur Fertigung von Übersichtsaufnahmen persönliche Daten erhebt und durch Funkübertragung an die Einsatzzentrale übermittelt, sind vom einfachen Gesetzgeber die Sicherheitsanforderungen zu beachten, die sich aus der Grundrechtsgewährung des Art. 33 VvB ergeben. Hierzu gehört insbesondere die Gewährleistung eines Sicherheitsniveaus bei der Übertragung der Daten, das dem Stand der Technik entspricht, durch den Gesetzgeber selbst (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Urteile vom 15. Dezember 1983 - 1 BvR 209/83 u. a. - BVerfGE 65, 1 Ls. 2, und  2. März 2010 - 1 BvR 256/08 u. a. -, BVerfGE 125, 260 Ls. 4).

2. Diese beiden verfassungsrechtlichen Anforderungen finden in der Entscheidungsbegründung der übrigen Mitglieder des Gerichtshofes keine hinreichende Berücksichtigung. Hinsichtlich der vom Gericht festgestellten Tatsachen beziehe ich mich im Folgenden auf die Feststellungen des Urteils. Insofern besteht keine Divergenz.

a) Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also der Abwägung, ob die Schwere der gesetzlichen Grundrechtsbeschränkung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe steht, würdigt die Entscheidung die Schwere des Eingriffs durch die abschreckende Wirkung polizeilicher Videoaufnahmen nicht ausreichend.

aa) Empirische Untersuchungen über die abschreckende Wirkung von Polizeipräsenz mit entsprechender Videotechnik liegen nicht vor. Folgende Erwägungen sind  verfassungsrechtlich in die Abwägung einzustellen:

i. Demonstrationsteilnehmer werden rechtlich gezwungen, erkennbar zu sein, § 17a Abs. 2 des Versammlungsgesetzes, es sei denn, es handelt sich um eine religiöse Versammlung.

ii. Es ist nicht ohne weiteres erkennbar, ob es sich um ein Beweissicherungs- oder ein Übersichtsaufnahmeteam der Polizei handelt.

iii. In der ursprünglichen Bildaufnahme sind nach heutiger Kameratechnik alle Personen zu erkennen.

iv. Es bestehen keine schwer überwindbaren Sicherungen bei der Bildübertragung.

v. Übersichtsaufnahmen sind bisher selten für erforderlich erachtet worden.

vi. Die Erforderlichkeit des Eingriffs ist bereits bei einer abstrakten Gefahr gegeben, also gegenüber dem Tatbestand eines unmittelbar bevorstehenden Schadenseintritts weit vorverlegt.

bb) Bei der Abwägung überwiegt das öffentliche Interesse an einer öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ohne behördliche Eingriffe und das private Interesse des einzelnen Grundrechtsträgers, das Grundrecht aus Art. 26 VvB ohne die Befürchtung einer behördlichen Erfassung wahrnehmen zu dürfen gegenüber dem öffentlichen Interesse an einem erleichterten Einsatz der Polizeikräfte bei öffentlichen Versammlungen. Die vom Gesetz zugelassenen Übersichtsaufnahmen sind lediglich ein Mittel der Erleichterung der polizeilichen Aufgaben, indem in einem Leitstand jederzeit ein Überblick auch über den Verlauf einer friedlichen Versammlung gewonnen werden kann. Ist aber die Versammlung friedlich, so kann die Polizei zunächst davon ausgehen, dass der Ablaufplan derselben, bei Demonstrationen insbesondere die Route, eingehalten wird, wobei gerade geringere Störungen des Ablaufs ein polizeiliches Einschreiten nicht erforderlich machen (vgl. EGMR, Urteil vom 5. März 2009, a. a. O.).

cc) Demgegenüber ist der zur Erkennbarkeit gezwungene Versammlungsteilnehmer bei Übersichtsaufnahmen vor die Wahl gestellt, sich zu entfernen oder eine mögliche Erfassung durch die Polizei in Kauf zu nehmen. Der Versammlungsteilnehmer hat keinen gesetzlich angeordneten hinreichenden technischen Schutz davor, dass unbefugte Dritte, z. B. gewalttätige Gegner der von ihm verfolgten Ziele, die an die polizeiliche Leitzentrale gesendeten Bilder „abfangen“ und so die Teilnehmer persönlich identifizieren können, da in der ursprünglich getätigten Bildaufnahme alle Personen erkennbar sind. Dies ist im Hinblick auf die Tatsache, dass Art. 26 VvB ein Menschenrecht gewährt, also auch Ausländer Grundrechtsträger sind, von besonderer Bedeutung. Viele dieser Grundrechtsträger kommen aus undemokratischen Staaten und müssen befürchten, dass durch nachrichtendienstliche Tätigkeit der Sicherheitsorgane ihrer Staaten die Bildaufnahmen der Polizei abgefangen und in ihren Heimatländern gegen sie verwendet werden können.

b) Soweit ein Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung vorliegt, der sich auf das Berliner Grundrecht aus Art. 26 VvB auswirkt und von mir daher im Rahmen dieses Grundrechtes zu prüfen ist, ist neben den vorerwähnten Gründen das fehlende Sicherheitskonzept des Gesetzgebers bei der verfassungsrechtlichen Prüfung zu berücksichtigen. Ordnet der Gesetzgeber eine Datenerhebung an, so kann die Sensibilität der erhobenen Daten verfassungsrechtlich besondere Schutzvorkehrungen verlangen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Urteile vom 15. Dezember 1983 und 2. März 2010, jeweils a. a. O.). Da die Gefahr des Missbrauchs der durch die Polizei erhobenen Bilder der individuellen Teilnehmer einer Versammlung durch politische Gegner oder ausländische Nachrichtendienste besonders naheliegend ist, hätte der Gesetzgeber ein Sicherheitskonzept für den Transport der Bildaufnahmen, z. B. durch entsprechend sichere Verschlüsselungstechniken, anordnen müssen. Es genügt insofern nicht, dass die Polizeibehörde die aus ihrer Sicht erforderlichen Maßnahmen trifft.

3. Im Ergebnis komme ich zu der Auffassung, dass aufgrund der Abschreckungswirkung von polizeilichen Bildaufnahmen bei Versammlungen und der mangelnden gesetzlichen Regelung der zu treffenden Sicherheitsvorkehrungen bei der Verarbeitung der erhobenen Daten, die derzeitige Regelung des § 1 Abs. 3 VersG Berlin nicht mit der Verfassung von Berlin vereinbar ist.

Berlin, den 11.04.2014 Meinhard Starostik


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